Warum wurde so lange geschwiegen?
Bewegende Filmvorführung mit Regisseurin Esther Gronenborn über Verbrechen in Wehnen während der NS-Zeit
Stille nach dem Abspann. 90 Minuten hatten die rund 70 Besucher im Garreler Gasthaus "Zum Schäfer" die Aufführung des Films "Ich werde nicht schweigen" verfolgt. Unter dem Eindruck des Geschehenen stehen sie auch noch, als die Fragerunde eröffnet wird - "eine sehr ergreifende Umsetzung der Forschung" nennt Dr. Ingo Harms den Film aus dem Jahr 2017, den er wissenschaftlich begleitet hatte.
1948 in Oldenburg; die Kriegswitwe Margarethe Oelkers, im Film dargestellt von Nadja Uhl, will wissen, was da passiert ist in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen. Sie stößt auf Ablehnung. Niemand will darüber reden, "keiner will die alten Geschichten mehr hören" sagen die Leute. "Dat is vörbi."
Auf Widerstände ist auch Regisseurin Esther Gronenborn gestoßen, berichtet sie. Die Filmförderung fiel so mickrig aus, dass man nicht in Oldenburg drehen konnte, sondern nach Tschechien ausweichen musste. "Das hat uns schon sehr verwundert", sagt die aus Oldenburg stammende Filmemacherin, die aber gleichzeitig betont, etwa von der Klinik sehr unterstützt worden zu sein.
Schweigen - das galt viele Jahrzehnte für das unsagbare Grauen ab 1936 in der Heil- und Pflegeanstalt. Erst 1996, mit Veröffentlichung der Doktorarbeit von Ingo Harms, gelangte das Thema in die Öffentlichkeit.
Die Regisseurin Esther Gronenborn hatte in dem Film das Schicksal ihrer Großmutter aufgearbeitet. Sie war in Wehnen ermordet worden, wie rund 1500 Patienten. Hunger-Euthanasie nennt Ingo Harms das, bedeutet: Beamte, Ärzte und Pfleger haben sie verhungern lassen. In den Krankenakten stehen freilich andere Todesursachen.
Warum? Ingo Harms sieht vor allem wirtschaftliche Interessen als Triebfeder, ein "exzessives Sparmodell". Die NS-Ideologie bot den Freiraum dafür. Die Ermordung setzte laut Harms schon drei Jahre vor dem Befehl Hitlers dazu ein - "keine Geschichte des Nationalsozialismus alleine, sondern der Psychiatrie", so Harms. Wehnen sei keinesfalls ein Einzelfall gewesen.
Bis zu welchen Jahren wurde in Wehnen "gestorben"? fragt ein Besucher, dessen Großmutter in Wehnen ihr Leben ließ. "Wissenschaftlich nachgewiesen bis einschließlich 1947", sagt Harms. Die Sterblichkeit geht erst im Jahr darauf auf ein Normalmaß zurück. Und das findet Günter Buschenlange, Vorsitzender des Garreler Heimatvereins, "unglaublich". Denn selbst nach dem Niedergang des NS-Regimes wurde in Wehnen weitergemordet.
Was geschah 1948? Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellt die Ermittlungen aber ein Jahr später ein, berichtet Harms. Zudem habe sich der Anstaltsleiter selbst getötet. 2018 waren erneut Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt worden - Harms: "wohl die letzten".
Das Thema ist für den Heimatverein Garrel längst nicht beendet: "Wir sind der Ansicht, dass die Aufarbeitung auch zur Aufgabe eines Heimatvereins gehört, ist es doch schließlich Teil unserer Heimatgeschichte", betont Buschenlange. Den Verstorbenen stehe das Recht zu, rehabilitiert zu werden. "Wir wissen noch nicht genau, wie wir dieser Menschen gedenken werden, aber wir werden einen passenden Weg finden", sagt Buschenlange. Auch die Oberschule Garrel habe ihr Interesse bekundet, sich in Zusammenarbeit mit dem Heimatverein und der Gedenkstätte Wehnen dieses Themas anzunehmen.
Regisseurin Esther Gronenborn hat "das Thema noch nicht aufgegeben". Wie Ingo Harms. Er bietet Betroffenen an, gemeinsam in die Akten zu sehen.
Quelle: Nordwest-Zeitung, August 2019
Text und Foto: Reiner Kramer